30. September 2023
Predictive Policing NDAS

Minority Report wird Realität – prädiktive Polizeiarbeit mit KI

Die meisten polizeilichen Bemühungen konzentrierten sich bisher auf die Vorhersage, WO und WANN Verbrechen passieren werden. In einem Pilotversuch will die britische Polizei jetzt auch vorhersagen, WER sie begehen wird. Künftig sollen Gewaltverbrechen, die “in der Zukunft” stattfinden, mit Hilfe künstlicher Intelligenz bekämpft werden. Das Programm namens NDAS wird von der West Midlands Police (WMP) geleitet, die die Städte Birmingham, Coventry und Wolverhampton abdeckt, mit dem Ziel, es auf ganz Großbritannien auszudehnen.

Diese Idee erinnert zurecht an den Sci-Fi Klassiker Minority Report von Regisseur Steven Spielberg. Verbrechen Vorhersagen, bevor sie passieren und potenzielle Kriminelle wegsperren? Das System, mit dem die britische Polizei diesen Weg beschreiten möchte, nennt sich National Data Analytics Solution, kurz NDAS. NDAS ist ein prädiktives Analyseprogramm zur Risikobewertung, das auf Statistiken und KI Vorhersagemodelle setzt.

Die NDAS Testphase wird  mit Regierungsmitteln gefördert
Das Projekt National Data Analytics Solution (NDAS) startete im August 2018. Dabei stellte das Innenministerium 4,5 Mio. £ für den Projektstart und das erste Betriebsjahr zur Verfügung. 2019 hat die Polizei von West Midlands weitere 5 Millionen Pfund an Regierungsmitteln erhalten, um die Versuche mit einem prädiktiven Analyseprogramm fortzusetzen.

Alles, was wir tun können, um den Kriminellen einen Schritt voraus zu sein, ist zu begrüßen – vorausgesetzt, es ist streng geprüft und ethisch einwandfrei. – meint Innenminister Sajid Javid

NDAS mit 3 Schwerpunkten
NDAS versucht in drei Anwendungsbereichen prädiktive Erkenntnisse im Zusammenhang mit Kriminalität und internen Polizeiprozessen zu gewinnen. 

1. Der erste Schwerpunkt des NDAS liegt in der Analyse der Polizeikräfte selbst. Man möchte herausfinden, wann das eigene Personal Gefahr läuft, stressbedingte oder andere chronische Krankheiten zu erleiden.

2. Der zweite Schwerpunkt widmet sich der Identifizierung erster Anzeichen, ob jemand Opfer von Menschenhandel wird oder zur Sexarbeit oder zum organisierten Verbrechen gezwungen wird.

3. Im dritten Anwendungsfall analysiert NDAS die Straf- und Sorgerechtsaufzeichnungen von Personen mit Vorstrafen wegen Waffen- und Messerkriminalität. Ziel ist es, aus diesen Daten Schlüsselindikatoren abzuleiten. So sollen Personen identifiziert werden, von denen die Polizei glaubt, dass sie sich auf einem “ähnlichen” Lebensweg befinden könnten. Diesen Personen kann dann eine Risikoeinstufung zugeordnet werden.

Theorie und Praxis – präventive Beratung
Die Theorie hinter dem NDAS-Programm ist, dass die Polizei – oder idealerweise die Sozialdienste –  diejenigen Menschen unterstützen oder beraten können, die als am stärksten von Gewaltkriminalität bedroht gelten. Oder auch Beratung für alle Personen mit einer Vorgeschichte von psychischen Erkrankungen anbieten, die vom NDAS als wahrscheinlich für ein Gewaltverbrechen eingestuft wurden.

Insbesondere dieser dritte Schwerpunkt des Projekts war Gegenstand heftiger Kritik. Datenschutz- und Menschenrechtsgruppen haben sich vielfach dagegen ausgesprochen, und auch der eigene Ethikausschuss der Polizei von West Midlands, meint dass es “viele offene Fragen gibt, die das Potenzial für ethische Bedenken aufwerfen”. Auch die Data Ethics Group des Alan Turing Institute in London übt 2018 in seinem Bericht Ethics Advisory Report for West Midlands Police Kritik. Trotz dieser Bedenken hofft das britische Innenministerium, dass NDAS nach Abschluss der Testphase von anderen Polizeikräften im ganzen Land implementiert werden kann.

Das NDAS Orakel als “predictive policing” Tool
NDAS ist weltweit das erste Projekt, bei dem Datensätze von mehreren Polizeikräften zur Verbrechensvorhersage zusammengeführt werden. In der Anfangsphase sammelte das Team mehr als ein Terabyte an Daten aus lokalen und nationalen Polizeidatenbanken, darunter Aufzeichnungen über Personen, die aufgehalten und durchsucht wurden, sowie Protokolle über begangene Verbrechen. Rund 5 Millionen Personen waren anhand der Daten identifizierbar.

Bei Analyse dieser Daten, fand die KI fast 1400 Indikatoren, die helfen könnten, Kriminalität vorherzusagen, darunter etwa 30, die besonders hervorstachen. Dazu gehörten die Anzahl der Verbrechen, die eine Person mit Hilfe anderer begangen hatte, und die Anzahl der Verbrechen, die von Menschen in der sozialen Gruppe dieser Person begangen wurden.

Was ist “Predictive Policing” genau?
Als Predictive Policing oder vorhersagende Polizeiarbeit bezeichnet man die statistische Analyse von Falldaten zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straftaten zur Steuerung des Einsatzes von Polizeikräften.

Predictive Policing am Beispiel Einbruchdiebstahl
Beim Delikt Einbruchsdiebstahl wiederholen sich Muster in der ihrer zeitlichen Wiederkehr (z.B. dunkle Jahreszeit, Urlaubszeit) und in der Art der angegriffenen Objekte (z. B. Villenviertel am Stadtrand). Diese Daten werden in einem Machine Learning System als Parameter für einen geographisch bestimmten Bereich automatisiert eingespeist. Mittels Wahrscheinlichkeitsrechnung wird eine Prognose getroffen, OB und WANN ein Bezirk wieder von dem Delikt betroffen sein wird.

Ab einer gewissen vordefinierten Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Bezirks für das Eintreten eines sogenannten “Triggerdelikts” (z. B. Einbruchsdiebstahl) wird ein Alarm bei der Polizeileitstelle ausgelöst. Schließlich werden polizeiliche Maßnahmen getroffen  und uniformierte Polizisten oder Zivilstreifen in die Gebiete beordert, um mutmaßliche Verbrecher auf frischer Tat zu ertappen.

Vorurteile werden repliziert – ein ethisches Minenfeld
Es scheint unvermeidlich, dass diese Art von System Gefahr läuft, die Vorurteile zu replizieren, die es bei der traditionellen Polizeiarbeit heute schon gibt. Wenn die Polizei beispielsweise verstärkt junge, schwarze Männer durchsucht, wird jedes maschinelle Lernsystem, das auf diesen Aufzeichnungen basiert, diese Verzerrung widerspiegeln. Datenethikexperten meinen, dass die Polizei hier ein ethisches Minenfeld betritt, auf das sie unter Umständen nicht vollständig vorbereitet ist.


Katz und Maus Spiel

Und dennoch: die Polizei der Zukunft muss vernetzt arbeiten, um dem organisierten Verbrechen Paroli zu bieten. Sie hat es weltweit mit einer sich ständig verändernden und immer komplexer werdenden Kriminalitätslandschaft zu tun. Demnach erscheinen alle Instrumente attraktiv, die versprechen, die Polizeiarbeit zu erleichtern. Und dazu gehört auch die Nutzung von Künstlicher Intelligenz.

Mehr zum Thema:

> In Philip K. Dicks Kurzgeschichte “Minority Report” von 1956 wurden das Thema “Pre-Crime” thematisiert.

> Der Sci-Fi Klassiker “Minority Report” mit Tom Cruise in der Hauptrolle handelt von einem Polizisten der Zukunft, in dessen Abteilung mittels Technologie zur Zukunftsschau Mörder vor dem Mord verhaftet werden. Er sieht sich selbst eines Verbrechens angeklagt und muss herausfinden, wie es dazu kommt und es verhindern.

> 2017 erschien der kritische Dokumentarfilm “Pre-Crime”, von Monika Hielscher und Matthias Heeder

> Wissenschaftliche Artikel zum Thema Predictive Policing

 

Michael Katzlberger

Michael Katzlberger widmet sich mit Leidenschaft dem Thema Künstliche Intelligenz in der Kreativindustrie, berät Unternehmen und gibt sein Wissen in Seminaren, Lehrveranstaltungen und Gastvorträgen im In- und Ausland weiter. Sein Schwerpunkt liegt hierbei darauf, das Thema KI zu entmystifizieren, um es EPUs, KMUs und der breiteren Öffentlichkeit besser zugänglich zu machen. 2022 gründete er 3LIOT.ai, eine hybride Kreativagentur aus Mensch und KI. Das Ziel: Die Grenzen menschlicher Kreativität zu erweitern.

Alle Beiträge ansehen von Michael Katzlberger →
%d Bloggern gefällt das: